Bess Mensendieck
..., geb. Elisabeth Marguerite Eltrich van Wagel oder geb. de Varel (1864-1957)
"Ich hatte mich als Kind mit den Brüdern im
Wettlauf, im Ringen und Springen gemessen und fand es schmerzlich, auf die
fernere Ausbildung der körperlichen Kraft und Geschicklichkeit verzichten zu
sollen. Da waren ringsum eherne Schranken."1) Bis zum Ende des 19.
Jahrhunderts schickt es sich nicht für junge Mädchen und Frauen, ein
Körperbewußtsein zu haben. Von Turnübungen2), Wettspielen und -läufen, einer
Ertüchtigung des Körpers im Wasser und auf dem Rasen per Geschlecht
ausgeschlossen, von willkürlichen Benimmregeln und törichten Modediktaten
eingeengt, verkümmert der weibliche Körper. Ohnmachtsanfälle, 'Bleichsucht',
Trippelschritte und Lungendeformationen sind die Folge: "Während der Knabe
seinen natürlichen Bewegungstrieben folgen und nach Herzenslust in frischer,
kräftiger Luft sich austummeln darf, muss das Mädchen, eingepfercht in
physiologisch geradezu unmögliche Kleidungsstücke, still im Hause und seiner
sauerstoffarmen, toten Luft sitzen und darf sich nur in sittsamen Schrittchen
ergehen."3)
'Wir mensendiecken!' rufen mit dem Beginn des 20.
Jahrhunderts die fortschrittlichen Frauen und begeisterten Anhängerinnen von
Bess Mensendieck, die ihre Geschlechtsgenossinnen zum Studium des eigenen
Körpers und seiner Funktionen aufruft und sie auffordert, das richtige Sitzen,
Laufen und Atmen, das vernünftige Einteilen ihrer Kräfte zu lernen.
Mensendiecks 'Körperkultur des Weibes' (1906) wird zum Bestseller, der 1925 in
neunter Auflage erscheint und damit fast zwanzig Jahre nichts von seiner
Aktualität einbüßt. Dabei wird ihr ein Ruhm wie nur sehr wenigen Menschen
zuteil: Aus ihrem Eigennamen wird das Verb, das den von ihr begründeten Vorgang
beschreibt.4)
So konsequent und energisch sie einerseits in der
Öffentlichkeit gegen die Modifizierung ihres Mensendieck-Systems eintritt und
die Frauen ihrer Zeit immer wieder zu Selbständigkeit und Selbsttätigkeit
auffordert, so zurückhaltend ist Bess Mensendieck andererseits, wenn es darum
geht, etwas über sie selbst zu erfahren: "Regarding biographical material:
We will be pleased to look over any articles which you may have written about
me and my work, if you so desire. I regret that - owing to lack of time - I,
myself, cannot write anything for you. I have informed recently that the new
edition of 'Brockhaus' will carry my data." 5) Die Ankündigung
Mensendiecks, nach ihrem Tod werde eine Biographie alle Fragen beantworten,
wird nicht wahr6) und bis heute herrscht ebenso Unklarheit über ihren
Geburtsort7) und -namen8) wie über ihre Ehe9) und ihr genaues Todesdatum (auf
testamentarischen Wunsch unbekannt).
Auf dem Weg zur Methode
"Dem Andenken
meiner Eltern
gewidmet
die mich schauen
gelehrt haben"
setzt Bess Mensendieck ihrem 1929 erschienen Buch 'Anmut
der Bewegung im täglichen Leben' voraus, denn sie hat Glück gehabt. Ihre Eltern
sind wohlhabend, aber das sind diejenigen vieler anderer Mädchen auch. Für Bess
Mensendieck bedeutet das Geld ihrer Eltern vielmehr, daß sie ihren
intellektuellen Ambitionen zu Hause in Amerika und in Europa nachgehen kann10),
nachdem sie eine ungewöhnliche Zustimmung erhalten hat. Die Eltern erlauben
ihrer Tochter, anders zu sein als die Frauen ihrer Zeit.
Bess Mensendieck wird in ein Jahrhundert hineingeboren,
das für Amerika den Krieg gegen Großbritannien (1812-1814), territoriale
Expansion (1821: 26 Bundesstaaten), die Abschaffung der Sklaverei, die
Ermordung Präsident Abraham Lincolns (1809-1865), die Eröffnung der ersten
Pazifikeisenbahn (1869), Industrialisierung und Verstädterung,
Einwanderungswellen aus Europa, Wirtschaftskrisen, Trustbildung und
Imperialismus bedeuten. Ihr Vater11) lebt mit seiner Familie in der Metropole
New York und verdient in den Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs als
Zivilingenieur sein Geld. Er reist viel, wahrscheinlich öfters begleitet von
seiner Frau und Tochter12), die schon zu einer Zeit als junge Frau in Europa
lebt und arbeitet, in der das selbständige Reisen und Leben für das weibliche
Geschlecht noch nicht vorgesehen ist.13) Internationalität wird ihr Lebensstil.
Die Gründung von Mensendieck-Instituten in vielen Ländern, Vortragsreisen durch
Europa und Kurse in Deutschland, Dänemark und den Niederlande prägen ihren
Alltag bis ins hohe Alter.
Nur zwanzig Jahre vor Bess Mensendiecks Geburt hatten
sich die amerikanischen Frauen zum ersten Mal organisiert gegen die
Benachteilungen ihres Geschlechts öffentlich artikuliert und die
Grundsatzerklärung von Seneca Falls analog zur Unabhängigkeitserklärung der
nordamerikanischen Staaten, in denen sie nicht vorkamen, verfaßt. Die
Resolutionen beinhalteten ebenso die Offenlegung männlicher Scheinmoral und des
künstlichen Konstrukts von der angeblichen weiblichen 'Natur' wie die Forderung
nach einem Wahlrecht für Frauen. Bess Mensendieck war vier Jahre alt, als die
'Bibel' der Frauenbewegung, John Stuart Mills (1806-1873) 'the subjection of
women' (Die Hörigkeit der Frau) erschien
- ein Mann vertrat hier die sonst
nur von Frauen vorgetragenen Positionen! Zu dieser Zeit (1870) arbeiteten mehr
Frauen als Männer in den Fabriken Amerikas, bedingt durch die fortschreitende
Industrialisierung; in der Post-, Militär- und Finanzverwaltung fanden sie zum
ersten Mal Arbeitsstellen.
Bess Mensendieck ist gut vorbereitet und später wird man
von ihr sagen: Sie ist "eine der ersten, sehr selbstbewußten, akademisch
gebildeten Frauen - ratiobeherrscht und unbeirrbar im Glauben
daran."14) Sie hat bei ihren Eltern das Schauen gelernt und kann eine gute
Schulbildung15) vorweisen. Nicht nur die Initiative zu Schulgründungen liegt in
Amerika bei Privatleuten, Schulen finanzieren sich auch aus Spenden und über
Stiftungen. Der Schulbesuch ist mit hohen Kosten verbunden und damit eine Sache
der höheren Gesellschaftsschichten, zu denen die Mensendiecks gehören.
Frauencolleges gibt es seit 1837, und dort lernen Mädchen und junge Frauen
mehr, als zur Führung eines Haushalts, für die Erziehung der Kinder oder die
gepflegte Unterhaltung mit dem Ehemann nötig ist. Vier Jahre vor Bess
Mensendiecks Geburt wird das 'Vassar Female College' in Poughkeepsie im Staate
New York gegründet, eine Schule mit Universitätsrang für Frauen.16) Darüber
hinaus haben Frauen im Westen Amerikas Zutritt zu den meisten Universitäten,
einige Fakultäten allerdings stehen dem weiblichen Geschlecht ablehnend
gegenüber; bei den Medizinern kommt es zu Unruhen und massiven Schikanen. Auch
Elisabeth Blackwell (1821-1910), die erste amerikanische Ärztin, kann sich nur
gegen große Widerstände ihre Ausbildung verschaffen und gründet schließlich das
erste Frauen- und Kinderkrankenhaus New Yorks.
Zur Ausbildung ihrer künstlerischen und
wissenschaftlichen Neigungen geht Bess Mensendieck wohl zu Beginn der 1880er
Jahre nach Europa und beginnt, angeblich neben dem Besuch der Universität17),
mit dem Studium der Bildhauerei und erinnert sich in ihrem Buch 'Look better,
feel better', das im ersten Teil autobiographische Einblicke gewährt, an
"a Parisian academy of sculpturing where I was a student. This was curiosity
concerning the differences in the shapes of people."18) Die Beobachtung
des menschlichen Körpers, das ruhige Schauen und Studieren, das gedankliche
Nachempfinden der Körperlinien wird zur Basis ihrer ganzen weiteren Arbeit,
denn Bess Mensendieck fragt sich: "If some models could have the beautiful
lines of masterful Greek statues why couldn't others? ... it seemed that many
did not develop the ful
potentialities of their
bodies."19) Sollte es an den Bewegungen, die bei manchen Modellen nicht harmonisch
abliefen, liegen? Es entwickelt sich Bess Mensendiecks Erkenntnis, daß
Schönheit und harmonische Bewegungen zusammen gehören. Während des begleitenden
Gesangsstudium erfährt sie die Auswirkungen der falschen Atemtechnik auf den
Körper und beklagt später: "Die Atmungsmechanik ist das Stiefkind in der
Wissenschaft."20)
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