Leseprobe aus:
Sturmvögel

Der "Champagner-Kapitän": Martin Peter Jensen (1867-1932)

Das Meer, Schiffe, die Seefahrt  -  das war sein Leben. Er saß am Fenster und blickte hinunter auf den Wyker Hafen, hörte das Rufen der Männer, das Geschrei der Möwen und die Hammerschläge von der Werft. Wie hatte er die Wyker Jungs immer beneidet, die extra schulfrei bekamen und dann unter lautem Gesang "Jule drei di, Jule drei di" wieder ein Schiff auf die Helling zogen. Er war höchstens ein- oder zweimal im Jahr von seinem Dorf nach Wyk gekommen, aber dann gab es nur eines für ihn: hinunter zum Hafen.

Zurück nach Oevenum ging es über steinige Feldwege und fast verwehte, oft unwegsame Pfade, die die Inseldörfer miteinander verbanden. Einzelne Sträucher am Rand boten manchmal ein wenig Schutz vor dem scharfen Südwestwind, der unablässig von Amrum herüberkam und dem sich der junge Martin Peter Jensen von Wyk über Boldixum und Wrixum nach Hause entgegenstemmen musste.

Oevenum, das Dorf in dem er geboren wurde: Umgeben von der Wrixumer und Midlumer Marsch, mussten die Bewohner einst Land von ihren Nachbardörfern kaufen, damit sie die Wege zu ihren Feldern anlegen konnten. Bevor Boldixum ihm den Rang ablief, war Oevenum das größte Dorf der Insel und bekannt für seine Gärten mit den vielen Obstbäumen. Die Pflaumen galten als so wohlschmeckend, dass sich viele Menschen aus Wyk und den Dörfern traditionell am ersten Sonntag im September, am "Pflaumensonntag", auf den Weg machten, um in Oevenum Pflaumen zu kaufen. Von der Hauptstraße des Dorfs führten viele kleine Nebenwege zu den reetgedeckten Häusern, in denen die Familien der Seefahrer lebten, deren Namen man heute noch kennt. Noch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts "widmeten sich fast alle Mannspersonen, die herangewachsene Jugend eingeschlossen, der Seefahrt"(1), erzählt Johann Braren in seiner Dorfchronik. Sie kreuzten mit ihren Schiffen manchmal jahrelang über die Meere und brachten einigen Wohlstand mit in ihr Heimatdorf, der für viele Familien einen hohen Preis hatte. Im Hafen von Amsterdam ertrunken, gestorben am Fieber zu St. Domingo, fiel im Kattegat über Bord, starb in Surinam, ertrunken in Grönland  -  so lauten viele der letzten Nachrichten über Männer aus Oevenum.

Über viele Generationen fuhren auch die Vorfahren des "Champagner-Kapitäns" als Steuermänner, Kommandeure und Kapitäne zur See, aber sie waren auch Landmänner und Ratmänner. In der Familie seines Vaters Peter Martin Jensen hatte er genau genommen zwei Großmütter und zwei Großväter, war sein Vater doch das angenommene Kind des Kommandeurs Peter Lütjens, der mit seiner Frau Margaretha keine Kinder hatte und ihn zum Erben machte. Von Jens Peter Jensen und seiner Frau Keike, die aus der bekannten und angesehenen Familie Hassold kam, war er das leibliche Kind und lebte in über fünfzigjähriger Ehe mit seiner Frau Johanna Louise aus Wyk als Landmann in Oevenum. Sein Sohn Martin Peter kam 1867 als ihr drittes Kind im Haus seines "geschenkten" Großvaters Kommandeur Peter Lütjens zur Welt, das an einem der Nebenwege (Buurnstrat 1) zur Oevenumer Hauptstraße lag und schon weit über hundert Jahre alt war. Viele Seefahrer waren dorthin von ihren langen Reisen zurückgekehrt, hatten einige Zeit mit ihren Familien gelebt und dann wieder Abschied genommen. Auf ihre Grabsteine auf dem Nieblumer Friedhof ließen sie später Halbanker setzen mit den Worten "Ich habe nun den Grund gefunden, der meinen Anker ewig hält"(2).

1867, im Geburtsjahr des "Champagner-Kapitäns", war es drei Jahre her, dass Föhr nicht mehr zu Dänemark gehörte. Jetzt kam nicht mehr das dänische Königspaar zur Sommerfrische auf die Insel, sondern der preußische Kronprinz Friedrich Wilhelm mit seiner Familie. Kapitän Hammer verließ Föhr mit seinem Kanonenboot und kehrte nach Dänemark zurück, der königlich-dänische Steuereinnehmer für Osterland-Föhr, Lorenz Konrad Knudsen aus Oevenum, war jetzt nur noch Landmann, gehörte aber zu den stimmberechtigten männlichen Dorfbewohnern. In dieser Eigenschaft saß er 1886 in der Dorfversammlung, um über das Ruhegehalt des Lehrers zu beratschlagen. Auf die Aufforderung des Pastors, nach fünfzig Jahren treuem Dienst müsse man dem Lehrer nun auch hundert Mark Ruhegehalt zukommen lassen, entgegnete Knudsen:" Wir müssen gar nichts!"

Lorenz Sönke Sörensen erhielt seine Pension, hatte er doch mit seltener Treue und Rüstigkeit 50 Jahre das Amt des Lehrers ausgeübt. Zu seinen Schülern gehörte auch der kleine Oevenumer Martin Peter Jensen. Aus seinem Elternhaus in der Buurnstrat lief er jeden Morgen spätestens dann zum Schulhaus (Dörpstrat 19), wenn die Glocke den Schulbeginn schon eingeläutet hatte. Ihre Geschichte hatte er oft zu Hause erzählt bekommen: 1796 waren in Nieblum nachts 23 Häuser durch Feuer zerstört worden, und in Oevenum hatte niemand etwas bemerkt. Um die Dorfbewohner in Zukunft rechtzeitig warnen zu können, bestellte man in Amsterdam, von wo die meisten Föhrer Walfänger in See stachen, eine Glocke, die auf dem Dach des Schulhauses angebracht wurde. Dort unterrichtete der anerkannte und beliebte Lehrer Sörensen die Oevenumer Jugend. Manchmal saßen über hundert Kinder im Unterricht, und es war nicht leicht, Ruhe und Ordnung zu halten. Es kam vor, dass er die Ärmel hochkrempeln musste und den Stock nahm mit den Worten: "Ich tue es ungern, aber ich muß!"(3) Dann wurde es mucksmäuschenstill, und alle wussten was kam. Als er die noch heute im Dorf stehende Friedenseiche 1871 feierlich pflanzte, war der kleine Jensen noch nicht dabei, aber die Geburtstagsfeiern des Lehrers waren auch jedes Jahr ein Fest: Morgens überreichten die Kinder ein Geschenk und nachmittags gab es Tanz.

Eine für den kleinen Jensen höchst interessante Geschichte erzählten sich die Eltern und Großeltern abends im Schein der Petroleumlampe von seinem Lehrer Sörensen: Dessen Großvater Girre Knudten hatte einst ein eigenes Schiff gefahren und es nach seinem Heimatdorf "Oevenum" genannt. Die Alten am Tisch konnten sich nicht erinnern, dass ein Mann von der Insel über so lange Zeit, nämlich sechzehn Jahre, Schiffseigner war. Aber dann verließ ihn sein Glück. Sein Schiff wurde im dänisch-englischen Krieg gekapert und er verlor sein Vermögen, so dass seine Frau und Kinder ihr Haus verloren. Girre Knudten kam nie wieder auf seine Heimatinsel zurück, er starb auf seinem Schiff "Oevenum" im Englischen Kanal und wurde in Amsterdam beigesetzt. Seine Frau starb vor Gram im gleichen Jahr und ließ drei Kinder zurück.

Und auch der Sohn des Lehrers Sörensen war Kapitän geworden. Sein Schüler Martin Peter Jensen kannte die Namen seiner Schiffe, die ihm eigentlich nichts sagten, mit ihrem Klang aber das Meer und die weite Welt in die Stube des Friesenhauses trugen: Vollschiff "Charly Baker" aus Yarmouth in Amerika. Wo lag das? Er fragte seinen Lehrer, denn der musste es ja schließlich wissen. Sörensen legte eine große, alte Karte auf den Tisch, fuhr suchend mit dem Finger über die Erdteile und sagte schließlich: "Hier!" Sein Schüler Jensen beugte sich hinunter und sah in der Nähe von Yarmouth eine Stadt, die hieß Boston, und eine ein Stückchen weiter hinunter hieß New York. Ob er jemals dort hinkommen würde?

Ob richtige oder "geschenkte" Großväter, Väter, Brüder, Onkel und Cousins  -  die Oevenumer Männer gingen zur See. Der richtige Großvater des kleinen Martin Peter Jensen war Seemann, und der "geschenkte" Großvater fuhr als Kommandeur "Die Perle" des Flensburger Reeders und Senators Heinrich C. Jensen. Ursprünglich als Westindiensegler für den Import von Rohzucker, Kaffee, Tabak, Tee und Rum eingesetzt, ging "Die Perle" unter Kommandeur Lütjens auf Robbenschlag. Der Walfang brachte ab ca. 1830 nur noch wenig Gewinn, so daß man sich auf den Robbenschlag verlegte und wie Kommandeur Lütjens bis zu 5000 oder 6000 Tiere pro Fangsaison mitbringen konnte. Lütjens Nachfolger auf der "Perle" wurde wieder ein Mann von Föhr: Nahmen Paulsen, über dessen sagenhafte Körperkräfte noch lange nach seinem Tod die unglaublichsten Geschichten in den Inseldörfern erzählt wurden, wenn man abends zusammensaß. Und dabei mag es dem kleinen Jensen ähnlich gegangen sein wie einem anderen Ovenumer Jungen, der später über diese Jahre schrieb: "Als stummer Zuhörer saß ich auf meinem Platz am Fenster, während die Nachbarn und Bekannte sich über die Tagesneuigkeiten unterhielten. Oft wurden auch Hexen- und Spukgeschichten zum besten gegeben, wobei mich in der Dunkelheit jedesmal das Gruseln packte und ich meine Mutter bat, das Licht anzuzünden, was aber abschlägig beschieden wurde, denn Petroleum mußte gespart werden. Vor sieben Uhr abends gab es kein Licht."(4)

Und so hörte der kleine Jensen die Geschichte des großen, starken Nahmen Paulsen: Seine Stimme soll ein dröhnendes Volumen gehabt haben, und er gehörte "zu den Menschen, deren Blut rascher durch die Adern rollte, und die beständig darauf aus sind, Kampf und Abenteuer zu bestehen. ... Nahmen Paulsen hatte ein Pferd, das Fritz hieß und ihm aufs Wort gehorchte. Es stand gewöhnlich unangebunden in seinem Stall. Wollte Nahmen ausfahren, rief er nur 'Fritz!', und das Pferd kam und stellte sich zum Anschirren vor den Wagen. Nun hatte wohl jemand, der die Tugend Fritzens nicht kannte, das Pferd an die Krippe angebunden. Als ich nun mit meinem Urgroßvater ausfahren sollte und dieser wie üblich Fritz rief, erschien das Pferd nicht. Da brüllte mein Urgroßvater aber los, denn er glaubte nicht anders, als Fritz habe sich eine Unbotmäßigkeit zu Schulden kommen lassen. Und siehe da! Fritz erschien mit einem Stück der Krippe, welches ihm am Halse hing."(5)

Martin Peter Jensen war schon fast 20 Jahre alt, als sein "geschenkter" Großvater Lütjens starb und seinem Vater einen Bauernhof mit Land in Oevenum (Buurnstrat 1) hinterließ, der noch heute im Besitz seiner Nachkommen ist. Von welchem seiner Großväter er es nun auch "geerbt" hatte, Martin Peter Jensen, Sohn eines Oevenumer Landmanns, war Seemann geworden. Später wird es über ihn heißen: "Martin war ein erfolgreicher Kapitän, der es zu Wohlstand brachte."(6) Und dabei half ihm ein Oevenumer Hirtenjunge, der in den Sommermonaten Kühe hütete und nur in den Wintermonaten in die Schule gehen durfte.

Jann Hinrich Andresens Oevenumer Großvater und Urgroßvater blieben als junge Männer auf See; seine Mutter Thurke heiratete einen Mann aus der Nähe von Ribe/Dänemark mit dem Namen Thomas Andresen. Thurke Andresens Elternhaus(Buurnstrat 36) wurde abgerissen, und die Familie zog in die Dörpstrat 56, wo Jann Hinrich Andresen aufwuchs. Er hatte keine leichte Jugend, schon früh musste mitarbeiten: "Schwer war das Los der Hirtenjungen und -mädchen, die von Mai bis August dreimal und von August bis November zweimal täglich den weiten und besonders im Herbst beschwerlichen Weg in die Marsch machen mußten, um die Kühe und Schafe hinauszubringen bzw. zu holen. Frühmorgens erschollen auf der Dorfstraße das Tuthorn und die Klappermühle zum Zeichen, daß der Hirte da war, um die Kühe abzuholen. Am 9. November war der Hirtendienst zu Ende. Am Abend dieses Tages versammelte sich die Schuljugend zum Umtuten. Mit allen möglichen und unmöglichen Instrumenten versehen, zogen wir Kinder unter einem Höllenspektakel die Straße auf und ab, manchem unbeliebten Dorfbewohner ein Ständchen bringend, bis er auf der Bildflächer erschien und hinter uns herjagte, was jedesmal ein Freudengeheul auslöste"(7). Jann Hinrich Andresens Eltern zogen später zusammen mit seiner inzwischen verheirateten Schwester Gardina nach Wyk; sein Elternhaus wurde verkauft und gehörte 1864 dem Kapitän Bandik Friedrich Tadsen, dessen Sohn Bandix 1894 als Schiffsjunge unter Kapitän Boye Petersen auf der "Preussen" fuhr.


...

Buchvorstellung zum
Buch
Presse Presse
 

(c) 2005 Dipl.-Ing. Birgit Berger