Leseprobe aus:
Wozu braucht ein Mädchen einen Schreibtisch?

STRANDRÄUBER

Die unheimlichen Geschichten von den Schiffbrüchigen des letzten Jahrhunderts, die sich mit allerletzter Kraft aus den tosenden Wellen der Nordsee auf den dunklen Inselstrand retten konnten, um dann von den dort schon wartenden Bewohnern totgeschlagen zu werden, damit diese noch vor dem Eintreffen des Strandvogts die nun herrenlose Schiffsladung übernehmen konnten, wird noch heute in der dichten, warmen Gemütlichkeit so mancher Teepunschrunde auf Föhr erzählt. Wir Kinder saßen mucksmäuschenstill am Tisch meiner Großmutter und schauten mit großen Augen aufmerksam zu den alten Männern, die mit wissenden Gesichtern bedeutungsschwer an ihren Pfeifen zogen und doch nie ganz genau erzählten, was nun eigentlich an diesen Geschichten "Tühnkram" war und was nicht. Und wenn wir nachfragten, keine Ruhe geben wollten, dann sagte Großmutter: "Ach, wat de Mannslüt alles vertelln na dree Punsch!"

Mit einem Augenzwinkern erzählt einer ihrer Enkel gerne: "Durch Strandräuberei kam das Vermögen der Familie zustande." Er übertreibt, sowohl was das angebliche "Vermögen" als auch was seine Herkunft angeht. Ganz Unrecht aber hat er auch nicht, wenn ich bedenke, wieviele Balken, Bretter und Pfosten, die ihnen am Strand "direkt vor die Füße geschwommen waren", Großmutters Mann und Sohn verbaut haben und wieviel Brennholz "ungeklärter Herkunft" in ihrem Wohnzimmerofen verfeuert wurde und den Wasserkessel leise sausen ließ. "Brennen ganz gut, de ollen Knarsen", höre ich meinen Vater noch heute sagen und sehe sein zufriedenes Gesicht über die "salzige Wärme" des kostenlosen Brennmaterials vor mir, wenn er sich einen Punsch einschenkte und seine Pfeife noch mal nachstopfte.

Auch an diesem Morgen war er schon früh unterwegs gewesen, denn auf der Insel hatte man von einem Schiff gehört, dem draußen vor Amrum ein Teil seiner Holzladung verloren gegangen sein sollte. Und weil der Wind schon seit dem Vorabend günstig stand und die Flut in den frühen Morgenstunden ihren Höchstpunkt erreicht haben würde, konnten sich die erfahrenen Holzsammler auf einen guten Fang freuen. Daß sie im Sinne des Gesetzes Strandräuberei betrieben, wenn sie wie die Männer in den Jahrhunderten davor Holz und Schiffsgüter bargen und heimlich nach Hause schafften, war den Inselmännern klar, aber Strandräuberei war für sie nicht unehrenhaft oder anstößig, sondern ihr uraltes Recht als Insulaner.

Eines Tages, nach einer besonders holzreichen Nacht, sprach der Inselpolizist bei meinem Vater vor. Seit ihrer Kindheit kannten sich die zwei "Inseljungs", nun aber war der eine amtlich und sozusagen als Strandvogt zu dem anderen gekommen, um etwas über den Verbleib der vielen, vielen Bretter von bester Qualität zu erfahren, die ein Schiff vor Amrum verloren hatte und die Strömung an den Wyker Strand getrieben haben mußte. Der Schiffseigner wollte sein Eigentum zurück, und so fand in unserem Garten die "Vernehmung" meines Vaters statt, von dem man wußte, daß er seine morgendliche Fahrradrunde am Strand drehte. Keine fünf Meter entfernt lagen nasse Bretter von bester Qualität und waren nicht zu übersehen! Seinen amtlichen Blick fest auf das "corpus delicti" geheftet, fragte der "Strandvogt" meinen Vater, ob er etwas gehört oder ihm jemand etwas erzählt hätte, ob er womöglich selbst einiges "in Sicherheit" gebracht habe. "Nichts gehört, nichts gesehen", soll mein Vater nach kurzem Räuspern mit fester Stimme gesagt haben, worauf sich die zwei in bestem Einvernehmen trennten. Der Inselpolizist hatte seine Pflicht getan...

Nicht immer reichte der mitgeführte Handwagen aus, um alles auf einmal möglichst rasch und noch im Schutze der morgendlichen Dämmerung nach Hause zu schaffen. Und so brachte mein Vater erst die eine Ladung auf dem Hof meiner Großmutter in Sicherheit, um dann noch einmal zurückzukehren für die nächste Fuhre. Und wenn er dafür lieber bis zu den dunklen Abendstunden wartete, so konnte er doch sicher sein, daß ihm inzwischen keiner der anderen "Strandräuber" das in den Büschen des damaligen Nordsee-Sanatoriums am Südstrand oder im kleinen Wäldchen beim Leuchtturm zwischengelagerte Holz weggenommen hatte. Strandräuberehre!

Schwer und naß vom salzigen Wasser der Nordsee waren die Stücke, die mein Vater mitbrachte und nur die besten, einwandfreien Bretter wurden auf dem hohen, trockenen Platz unter dem Dach des Gartenhauses gelagert, bis er sie eines Tages - manchmal erst nach Jahren - herunterholte, um sie für eines seiner Bauvorhaben zu verwenden. Später ging er dann durch die Räume des Hauses und erzählte mir, welche Bretter er verarbeitet hatte, von welchem Schiff sie wahrscheinlich kamen und daß sich das frühe Aufstehen in jener kalten Februarnacht dafür doch wirklich gelohnt hatte. Wenige Jahre nach seinem Tod räumten wir eines Tages das Holz-Depot meines Vaters und erinnerten uns an die Sturmnächte, in denen er noch einmal vor dem Schlafengehen vor die Tür geguckt und sich für den nächsten Morgen den Wecker früher gestellt hatte, denn er hatte gehört, daß ein Schiff vor Amrum ...

[Strandräuber] [Konfirmationsanzug]

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Presse Presse
 

(c) 2005 Dipl.-Ing. Birgit Berger