Unveröffentlichte Kapitel zu:
Mörike von A bis Z

Breyersches Landhaus
(unveröffentlicht)

Wie viele Dichter gibt es, die so oft umgezogen sind wie Eduard Mörike, daß allein diesem Aspekt seiner Biographie ein ganzes Buch gewidmet ist? Hans-Ulrich Simons "Mörike-Häuser" zählt allein für die Jahre 1851-1875 zehn verschiedene Stuttgarter Wohnungen auf, in die der Dichter ein- und wieder auszog. Stets auf der Suche nach den idealen Gegebenheiten, die ihm erlaubten, "die Stimmungen abzuwarten", um "poetisch aufgeregt" zur Feder greifen zu können, wanderte Mörike sein Leben lang von einem Ort zum anderen. Die württembergische Residenzstadt hatte wohl die Endstation seines Lebens sein sollen, er aber fühlte sich im "Stuttgarter Strudel" nur "unbehaglich und nutzlos", grübelte über das Zerwürfnis seiner Ehe, dieser "traurigen Sache", nach und floh 1873 schließlich aufs Land, nach Fellbach.

Mörikes "Verbannung" galt als "eines der ansehnlichsten Dörfer Württembergs", dessen "herrliche Weine" und "ansehnliche Kirche" ebenso erwähnt werden wie die "weithin sichtbare Fellbacher Linde". Gar nicht so weit davon entfernt, "in einem hübschen, ganz am äußersten Ende des Dorfes gegen Cannstatt zu, zwischen Gärten und offenen Feldern gelegenen Hause" bezog Mörike zusammen mit seiner Schwester Klara und Tochter Marie drei Zimmer, die sie mit einem Teil ihrer Stuttgarter Möbel einrichteten. Ein Aquarell aus dem Jahre 1852 bietet von Westen her den Blick auf die Lutherkirche und das Fellbacher "Mörike-Haus", in dem er zwei Monate im Herbst 1873 lebte. Das damals sogenannte "Breyersche Landhaus" (heute: Lindenstraße 17) steht nicht mehr, Klara Mörike aber vermittelt in ihrem Brief an Luise Walther einen Eindruck davon, wie es dort aussah. "Ich kam bis daher immer erst nach 2 Uhr dazu mein Magdhabit abzulegen, denn in einem so großen weitläufigen Haus alles ohne die geringste Hilfe zu thun bringt ein endloses Gelaufe u. ein Hantieren mit sich, bis nur die Holz u. Torffressenden Öfen versorgt sind", und davon gab es einige, denn das Breyersche Landhaus verfügte über den damals ungewöhnlichen Luxus von fünf beheizbaren Zimmern. Es war kein kleines Fellbacher Bauernhäusle, in dem Mörikes wohnten, sie hatten vielmehr ein Landhaus mit großbürgerlichem Ambiente gemietet. Die zu Besuch kommenden Hartlaubs waren begeistert von "Schlößchen, Garten und prächtige(r) Umgebung, in welcher sich einem Mut und Herz erweitern". Auf dem großen Gartengrundstück stand neben dem Wohnhaus mit über 200 qm Wohnfläche noch ein "Wohn- und Ökonomie-Gebäude" von 130 qm mit Pferde- und Geflügelstall, Waschküche und Kochküche, wo Klara "mit Anstrengung" den Nachmittagskaffee ihres Bruders röstete. Ihre Nichte Marie war bei all dem "G'schäft" keine große Hilfe; gesundheitlich schon stark angeschlagen, durfte sie "nur zu den sanften Stubengeschäften" herangezogen werden. Und der Hausherr? Man war schon froh, wenn er stundenweise das Haus verließ und so zu einer gewissen Entlastung beitrug. Seine Teilnahme am ländlichen Leben bestand vor allem in ausgedehnten Spaziergängen, die ihn allerdings auch nicht immer erquickt nach Hause zurückbrachten. Nach einem Gang durch die Fellbacher Abendluft notierte er: "Kopfweh am folgenden Tag." Mörikes Stimmung war auch hier, auf dem Land, nicht so gut wie erhofft; er sprach von seiner "Einzechte" und neuen "Armethei", plagte sich mit den Trennungsvereinbarungen seiner Ehe und den Umarbeitungen am "Maler Nolten" herum, las ein bißchen und befand sich in einer entscheidungslosen Warteposition.

Nur zwei Monate lebte Mörike in Fellbach, bewohnte ein Haus, das nicht so recht ins Dorf paßte, seine Familienverhältnisse gaben Anlaß zu allerlei Vermutungen, man sah ihn nicht regelmäßig in der Kirche und außerdem ging er spazieren, wenn andere "zom schaffe" aufs Feld gingen. Es kam viel Besuch von auswärts, aber den Fellbacherinnen und Fellbachern blieb er fremd. Beobachtet und gesprochen wurde sicher, vielleicht auch darüber, daß die Hausfrau nicht immer selbst kochte, sondern manchmal das Essen aus der "Traube" bringen ließ.

Schräg gegenüber des "Breyerschen Landhauses" wohnte damals ein Mitglied der berühmten württembergischen Lehrer- und Musikerfamilie Auberlen, die über Generationen im alten Fellbacher Schulhaus neben der Lutherkirche gewirkt hatte. Zwei Wochen nach seinem Einzug stattete Mörike seinem Nachbarn einen ersten Besuch ab, bei dem sicher bald die gemeinsamen Bekannten zur Sprache kamen. Zu Wilhelm Amandus Auberlens (1798-1874) Jugendfreunden gehörte der Komponist Friedrich Silcher (1789-1860), der in der Fellbacher Schule seines Vaters ein Jahr als Provisor angestellt war und später die solide musikalische Grundausbildung betonte, die er dort erhalten hatte. Mit seinem Jugendfreund Auberlen geriet er im Jahre 1846 wegen dessen populärer "Tonzifferschrift", die die schwierige Notenschrift in den Schulen und Kirchen ersetzen sollte, aneinander. Auberlens Gast und neuer Nachbar Eduard Mörike kannte Silcher schon aus seinen Tagen als Tübinger Stiftler, dessen Musikbegeisterung manchmal in Übermut umschlug: "Abends nach dem Essen hielt ein volles Orchester von Studenten Musikübung im untern Hörsaal. ... Bei einem Schlachtenstück ... voll affektierter Schwermut und Plagiaten, verführte mich meine Lustigkeit zu allerlei heimlichen Pantomimen und Spott; - die nächsten Zuhörer brachen, ohne daß ichs anfangs gemerkt hätte, in lautes und herzliches Lachen aus; es lief immer mehr im Saal herum, bis der Humor das schmelzende Geseufz der Ouvertüre stocken machte und die erzürnten Spieler mit weggeworfenen Instrumenten sprengte, eben da ich kaum noch schnell genug aus der Tür schlüpfte. Silcher und ein Stadtmusikus konnten nichts mehr aufhalten." Jahre später schuf der damalige Universitäts-Musikdirektor Friedrich Silcher eine eigenhändige Komposition des Gedichts "Verborgenheit', das zu den schönsten seines aufmüpfigen Studenten gehört. Es werden wohl diese gemeinsamen Verbindungen zur Musik gewesen sein, die in den Gesprächen zwischen Auberlen und Mörike Nähe und eine Art von Nachbarschaft herstellten, die in den Familienbesuchen bei "Schulmeister Auberlens" und auch darin ihren Ausdruck fand, daß die Tochter Auberlens zur Weinlesezeit "Trauben und Kuchen" ins "Breyersche Landhaus" brachte. Während über die Beziehungen der Frauen Auberlen und Mörike zueinander kaum etwas bekannt ist, können wir uns einen engeren Kontakt der zwei Hausherrn besser vorstellen. Beide Männer lebten inzwischen im Ruhestand, hatten es zu einem gewissen Ansehen gebracht, verfügten über Zeit und gemeinsame Interessen, waren (aus verschiedenen Gründen) sturmerprobte Ehemänner, lebten finanziell einigermaßen abgesichert und gingen mit ihren 69 bzw. 75 Jahren dem Ende ihres Lebens entgegen. Das verbindet, und so wundert es nicht, daß Mörike den Auberlen erwähnt - als einzigen Fellbacher.

Auberlen, dessen Name "unzertrennlich ... mit der Stätte seiner Wirksamkeit verknüpft" war, Silcher, der bei dessen Vater "in die Lehre ging" und das aus dem Remstal stammende Lied "Muß i denn zum Städele hinaus" populär machte, und der Dichter Mörike, dem in Fellbach trotz der "lieblichen Herbstsonne" am Schreibtisch nichts "wachsen, grünen und blühen" wollte, der aber immerhin ein wenig erholt nach Stuttgart zurückkehrte, sind in ihrer intellektuellen Dreier-Beziehung zu einem bedeutenden Teil der örtlichen Kulturgeschichte geworden. Trotz des massiven Einspruchs einer zu Beginn der achtziger Jahre von Dr. Klaus-Walter Frey gegründeten Fellbacher Bürgerinitiative, gelang es ihm und seinen Mitstreitern, dem Synodalen Martin Pfander und dem Unternehmer Werner Eisemann, nicht, den Abbruch des geschichtsträchtigen Fellbacher Schulhauses zu verhindern. Die Wirkungsstätte Auberlens und Silchers wurde abgerissen. Auch an Mörike erinnert heute kein Haus mehr in Fellbach, es wird aber seit 1991 alle zwei Jahre von der Stadt Fellbach ein "Mörike-Preis" für Literatur verliehen, der an denjenigen der drei Männer erinnern soll, der sich nur ganz kurz in Fellbach aufhielt und keines seiner Werke dort verfaßt hat, während Auberlen die örtliche Schul- und Musikgeschichte prägte und Silcher dort entscheidende Grundlagen erwarb.

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(c) 2005 Dipl.-Ing. Birgit Berger