Schulidee: Weiblichkeit. Höhere Mädchenschulen im
Königreich Württemberg
1806 bis 1918.
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Ob sie nun höhere Töchterschulen waren und blieben oder
ab 1877 als höhere Mädchenschulen staatlich anerkannt wurden: Sie hatten alle
das Ziel, den Schülerinnen eine "höhere", über das Volksschulniveau
hinausgehende Bildung (ohne jegliche Berechtigung) zu vermitteln und sie auf
ihre "Bestimmung" als Ehe-, Hausfrau und Mutter vorzubereiten. Diesem
Idealbild aber trat spätestens Mitte des 19. Jahrhunderts die Realität des
weiblichen Lebens entgegen. Das Lösungsmodell "Bräutigam" verlor an
Tragkraft, immer mehr Frauen konnten oder wollten nicht ihrer angeblich
natürlichen "Bestimmung" folgen. Das blieb selbst manchen Hütern der
weiblichen höheren Bildung, den Schulvorständen, nicht verborgen und einige
wenige Ausnahmemänner reagierten auf das sich wandelnde Bild von Weiblichkeit.
Eine fehlende Normierung und der private Status dieser Schulen, die keinem
Schulgesetz, sondern den Anforderungen des freien Schulmarktes (nur genügend
Schülerinnen sicherten das Bestehen) unterworfen waren, machten eine für heute
ungewöhnlich schnelle Reaktion auf die Bedürfnisse der Schülerinnen und damit
die Entwicklung sehr unterschiedlicher Typen von höheren Mädchenschulen möglich.
Schon 1840 bildete man in Reutlingen Lehrerinnen aus, um 1860 wurden junge
Frauen in Schwäbisch Hall auf den Postdienst und das Eisenbahnsektor
vorbereitet, in Göppingen wurden Buchführung und andere gewerbliche Fächer
angeboten.
Neben diesen ihnen vom männlichen Definitionsmonopol zugestandenen Arbeitsfeldern, die das herkömmliche Bild von Weiblichkeit nicht in Frage stellten, machten Frauen in Württemberg den Beruf der höheren Lehrerin zum Ausgangspunkt ihrer Akademisierung. Vom Stuttgarter Katharinenstift aus begannen die Seminarlehrerinnen Pauline Steinmayer und Julie Kazmeier ein Netzwerk zu spannen, in dem Schülerinnen, Mütter, Seminaristinnen des höheren Lehrerinnenseminars, Schulvorsteherinnen (nur an Schulen ohne staatliche Anerkennung), Lehrerinnen, Schriftstellerinnen, Frauenrechtlerinnen, Kirchenfrauen und Politikerinnen die Schulentwicklung beeinflußten und vorantrieben. Mit ihrer Anwesenheit im täglichen Unterrichtsgeschehen und ihrem Vorbild, mit Petitionen, Vereinsgründungen, Gremienarbeit, Veröffentlichungen, Tagungen von nationaler Bedeutung, erkämpften Sitzen im Mädchenschulrat, der Zulassung als Gasthörerinnen und gegenseitiger ideeller wie materieller Unterstützung stellten sie sich der tradierten Übermacht der Schulmänner entgegen und vergrößerten ständig ihre Aktionsebene. Sie ebneten den Weg zu einer Bildung, die die Gestaltung eines offenen, individuell ausgeformten Lebenslaufs ermöglichte.
Die Zulassung zum Abitur und zur Universität gehört zu den Ergebnissen einer Schulentwicklung, die in Württemberg von Frauen geleistet wurde, die über die für einen weiblichen Menschen maximal zu erreichende Bildung verfügten und sich vom Domestikationsprogramm "Bestimmung" so weit wie möglich emanzipiert hatten. Ihre soziale, kulturelle und politische Rolle und Wirkung in der Geschichte der höheren Mädchenschulen im Königreich Württemberg, dieses "Ruhmesblatt der deutschen Frauenbewegung" macht "Schulidee: Weiblichkeit" erstmals deutlich.
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